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Datum: 15.11.2022

Vernichtung von Menschen bleibt Mahnung auch über die Zeit hinaus

Über achtzig Menschen versammelten sich am Abend des 9. November 2022 vor der Merseburger Straße 8. Sie alle, darunter Vertreter von Politik und Wirtschaft, der Bundeswehr, aber auch Schülerinnen und Schüler, waren gekommen, um der Misshandelten, Verhafteten und Toten im Zusammenhang mit der Pogromnacht 1938 und der unzähligen Opfer des Holocausts in den Jahren des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 zu gedenken. Damals – im November 1938 und vor nunmehr 84 Jahren – hatten antisemitische Bürger in ganz Deutschland Synagogen angezündet, Läden und Wohnungen verwüstet und Menschen jüdischen Glaubens an Leib und Seele gequält.

Seit 2019 organisiert das Simon-Rau-Zentrum zusammen mit der Stadt Weißenfels jeweils am 9. November das Gedenken an die damaligen Geschehnisse in einem besonderen Rahmen. Es werden an dem Abend Orte in der Stadt abgeschritten, an denen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes lebten, arbeiteten und manchmal auch zu Tode kamen.

Am vergangenen Mittwoch erinnerten nun die Schüler der Ökowegschule in der Merseburger Straße 8 zuerst an das Schicksal der Familie, die Julius Buxbaum mit seiner Frau Paula dort gründete. Sie hatten zwei Kinder, Hedda und Gerhard. Sie alle wurden aus ihrem Heim vertrieben, auseinandergerissen und fanden sich nach vielen Irrwege 1945 in Haifa und in Boston wieder.

Auch die Familie Schloß in der Merseburger Straße 7 wurde enteignet und getrennt, kehrte jedoch teilweise nach dem Krieg wieder nach Weißenfels zurück. Und auch hier waren die Erlebnisse der vier Familienmitglieder Arthur und Anne mit den Kindern Hannelore und Anneliese zuvor in Weißenfels unterschiedlichster Natur. Während Hannelore in der Schule das Essen aus der Hand geschlagen wurde, erlebte Arthur menschliche Fürsorge, als den Schwerkranken trotz strengstem Verbot ein Arzt heimlich versorgte. Das Arthur Schloß 1943 an den Folgen seiner 1938 erfolgten Verhaftung verstarb, konnte der mutige Einsatz des Arztes nicht verhindern.

Auch Julius Lewinsohn überlebte den Naziterror nicht. Das Schicksal dieses Weißenfelsers, dem damaligen Inhaber der Trampler-Schuhfabrik in der Kubastraße, wurde den Teilnehmern der Gedenkfeier mittels einer Lichtinstallation an einer dortigen Giebelwand verdeutlicht: Enkelin Miryam Krawitz berichtete in einer Videoaufzeichnung, wie ihre Kindheit an der Seite ihres Großvaters verlief und wie er schließlich nach seiner Deportation in Theresienstadt verhungerte.

Auf das Schicksal von Julius Lewinsohn ging auch Oberbürgermeister Martin Papke in seiner den Rundgang abschließenden Ansprache vor der Synagoge ein. Er zitierte dessen Urenkelin Hadassa Buxbaum, die einmal geschrieben hatte, dass sie absolut kein Interesse habe, jemals nach Deutschland zu kommen: „My great Grandfather, Julius Lewinsohn, was slaughtered by the Nazis, as was my mothers oldest sister, her husband and six children! (dt.: Mein Urgroßvater, Julius Lewinsohn, wurde von den Nazis abgeschlachtet, genauso wie die älteste Schwester meiner Mutter, ihr Ehemann und die sechs Kinder)“, gab Martin Papke ihre Worte wieder. Und er fuhr fort: „Dass wir heute hier stehen, zeugt von dem tiefen Schnitt in die Menschheitsgeschichte, den die Verantwortlichen und glühende Verfechter der Nationalsozialisten über die Welt gebracht haben.“ Der Oberbürgermeister schloss mit den Worten des französisch-litauischen Philosophen Emmanuel Lewinas, dessen Eltern und Geschwister von einem SS-Hauptmann in Kaunas erschossen wurden: „Die Reichspogromnacht und die damit verbundene Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, Behinderten, mahnt uns weiter und bleibt keine Frage von Trauerphasen, die in Zeit zu beschränken wären.“ Darum sei ein politischer Gedanke eines verordneten Schlussstrichs keine Option.

Anschließend sprach auch Landtagsabgeordneter Sebastian Striegel. Er erinnerte an die 68 Weißenfelser Opfer der Novemberpogrome 1938. In diesen Tagen „brach sich der zuvor gesäte und über Jahre geschürte Hass gegen Jüdinnen und Juden in offener Gewalt und umfassender Zerstörung Bahn.“ Und später in seiner Ansprache führte er auf die damaligen Geschehnisse in ganz Deutschland bezogen aus: „Zehntausende Menschen wurden gedemütigt, manche brachten sich in Folge um. Hunderte Jüdinnen und Juden wurden verletzt und über 1.400 Menschen getötet.“ Das Unrecht, dass Jüdinnen und Juden in den Jahren ab 1933 angetan wurde, sei nur schwer zu ertragen: „Es steht in unserer Verantwortung, dass aus dem Wunsch ‚Nie wieder‘ gelebte Realität wird. Denn die mörderische Ideologie des Antisemitismus ist bis heute nicht besiegt“, führte er mit Verweis auf den Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle 2019 aus. Es gelte, hinzuhören und hinzusehen, den Antisemiten ins Wort zu fallen und sie an ihrem Tun zu hindern. „Die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten ist kein Spaziergang.“

Vor der abschließenden Kranzniederlegung verlas der Weißenfelser Fraktionsvorsitzende Maik Reichel ein Grußwort von Max Privorozki, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale, anlässlich des Gedenkens an die Geschehnisse in November 1938. „Dieses Pogrom hat den Weg zur Massenvernichtung von Juden in Europa eröffnet ­– zum Holocaust“, trug Maik Reichel vor. Und unter Bezugnahme auf die Aussage eines Bundestagsmitgliedes, dass Hitler nur ein Vogelschiss in der Geschichte sei, verlas der Fraktionsvorsitzende die Worte Privorozkis: „Für uns Juden war dieser ‚Vogelschiss‘ jedoch zu brutal und bedeutete zu viel. Jede jüdische Familie nicht nur in Deutschland beklagte Opfer dieses Massenmordes. Deswegen möchte ich heute denjenigen, die das Ereignis verharmlosen, sagen: Den Vogelschiss kann man wegreinigen und die Oberfläche wieder saubermachen. Den Holocaust zu reinigen, ist nicht möglich.“